Leo Maillet

Hotel Alpina im Zweiten Weltkrieg – ein «anderer» Gast: der Künstler Leo Maillet*

Georg Jäger.
Im Lauf des Zweiten Weltkriegs wurden in Graubünden Militärinternierte aus Polen, Italien, Deutschland und Russland auf rund fünfzig Gemeinden verteilt. In Churwalden, Malix und Passugg internierte der Bund insgesamt 831 Polen, die den «Polenweg» von der Schluocht oberhalb Passugg nach Churwalden bauten. In Tschiertschen war zeitweise schweizerisches Militär untergebracht. Gegen Ende des Krieges, im Lauf des Jahres 1944, kamen Internierte und Flüchtlinge ins damals leerstehende Hotel Alpina; darunter waren zahlreiche Juden, die vom Eidgenössischen Polizeidepartement für eine begrenzte Zeit zugeteilt wurden. Im Alpina wohnten Polen, Italiener, Österreicher, ukrainische Angehörige der Sowjetunion und Staatenlose. Diese Alpina-Gäste arbeiteten zum Teil als Landwirtschaftshelfer – bezahlte Arbeit war verboten – oder halfen sonst mit, wo es möglich und erwünscht war. Im Hotel fanden Theater- und Musikabende statt, zu denen auch Einheimische eingeladen waren. Die Bevölkerung profitierte gelegentlich von der ärztlichen Betreuung, die den Flüchtlingen zugeteilt war.


Leo Maillet mit Leica, 1975, Verscio. Foto: Aurelio Siebert


Unter den internierten Personen befand sich während mehrerer Monate ein Maler, Leo Maillet (eigentl. Leo­pold Mayer 1902–1990), einziges Kind einer begüterten jüdischen Familie aus Frankfurt/Main. Seine Notizen und Bilder sind ein wertvolles Zeugnis eines begabten Künstlers, aber auch ein historisches Dokument zum dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts. Eine kurze Episode seines abenteuerlichen Lebens spielte sich im Hotel Alpina in Tschiertschen ab. Ob sein Schicksal im Dorf damals bekannt war? Es ist zu bezweifeln.


Der Pianist, Tschiertschen 1944

Wer aber war Leopold Mayer? Nach einer kaufmännischen Lehre ab 1925 erhält er eine gründliche Ausbildung in der Frankfurter Kunstschule. Bald kann er in der Frankfurter Zeitung und anderen Blättern Kunst- und Reiseberichte publizieren. 1930 wird er in die Meisterklasse von Max Beckmann aufgenommen; er erhält für eines seiner Werke im gleichen Jahr den Goethepreis der Stadt Frankfurt. 1933 muss der Jude als von den Nazis verunglimpfter Vertreter der «entarteten Kunst» sein Studium aufgeben. Das Geschäft seines Vaters, der 1932 gestorben war, wird enteignet, die meisten der zahlreichen Arbeiten Mayers werden bereits kurz nach der Machtübernahme vernichtet. Überlebt haben einige Werke, die er früher im Tessin geschaffen hatte. 1934 plant er die Emigration; in Belgien fördert ihn James Ensor, und im folgenden Jahr flüchtet er endgültig aus Deutschland über Luxemburg, wo man ihn ausweist, nach Paris. Er arbeitet erfolgreich als Fotograf, Drucker und Radierer. In Deutschland erhält er 1936 in Abwesenheit Berufsverbot durch die Reichskulturkammer.


Moi,1945, Radierung

1939 interniert ihn die französische Polizei als Zwangsarbeiter in Zentralfrankreich; er flieht in die Provence, wo er sich bis 1942 mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt. Dann verhaftet ihn die Gestapo und steckt ihn in ein südfranzösisches Konzentrationslager. Mayer kommt bald auf einen Transportzug ins Vernichtungslager Auschwitz. Am zweiten Tag gelingt ihm der Sprung durch eine Dachluke des Waggons, er schwimmt über den Fluss Cher und schafft es bis ins damals noch unbesetzte Vichy-Frankreich nach Tarascon. Von einer Widerstandsorganisation erhält er einen französischen Pass mit dem Namen Leo Maillet, fortan seine neue Identität (er schrieb sich ohne é). In den Cevennen überlebt er ein Jahr lang als Hirte. Seine Mutter in Frankfurt wird zu dieser Zeit deportiert und ermordet; er erfährt ihr Schicksal erst jahrelang nach dem Krieg. Die Gestapo stürmt in Paris noch 1943 sein Wohnatelier und vernichtet über 100 Kupferplatten und mindestens ebenso viele Ölbilder. Anfang 1944 gelingt ihm nochmals eine abenteuerliche Flucht in die Schweiz, wo er wieder interniert wird, zunächst während etwa eines halben Jahres in Montreux, dann noch einige Monate in Tschiertschen im Hotel Alpina. Eine Organisation für die Betreuung der Flüchtlinge verschafft ihm Material zum Zeichnen und Malen. In den publizierten Blättern seiner Erinnerungen stehen nur wenige Zeilen zum Aufenthalt in Montreux. Aus der Zeit im Alpina Tschiertschen stammen einige seiner Bilder.
Hunderte von Maillets Werken wurden im Horror der Nazizeit vernichtet; er musste immer wieder neu beginnen. So auch nach dem Krieg, als ihm eine jüdische Stiftung eine künstlerische Fortbildung in Basel ermöglichte. Er lebte danach bis zu seinem Tod vorwiegend im Tessin, dem Kanton der Ferienerinnerungen seiner Jugend. Die meiste Zeit verbrachte er in seinem Atelierhaus in Verscio, nachdem ihm – nach jahrelangen Prozessen – eine Entschädigungssumme der Bundesrepublik zugesprochen worden war. Der bisher staatenlose Maillet erlangte 1968 in der Tessiner Gemeinde Molinazzo di Monteggio das schweizerische Bürgerrecht. Sein Werk ist einem breiteren Publikum kaum bekannt; in Fachkreisen gilt er hingegen als Künstler, dessen Individualität vor allem in der Verarbeitung der Schreckensjahre von 1933 – 45 wurzelt und «viele Begabungen widerspiegelt». (Decker-Jannsen 56)


Cellist 1944, Tschiert- schen, Aquarell und Sepiatusche
«Es war Sommer 1944. Der Krieg war noch nicht zu Ende. (…) Trotz Angst und Panik musizierte man, tanz­ te wie auf schwankendem Schiff, phantasierte und hoffte…» (Leo Maillet, Bilder Skizzen…, p. 71).

An einen deutschen Prozessgutachter, den Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts, erinnerte sich Maillet besonders gern: «Er konstatierte, dass ich zwar vollkommen unbekannt sei, aber trotzdem zu den fünf grossen deutschen Malern und Radierern wie Beckmann, Dix, Grosz, Hofer gehöre…, und der Wert der verlorenen Radierplatten und Bilder schnellte in eine sechs- stellige Zahl. (…) Die Wiedergutmachung erlaubte mir, im Tessin … ein grosses Studio zu bauen, ebenfalls ein Wohnhaus mit einer Galerie». Maillet war nicht nur auf als Verfolgter ein Überlebenskünstler, er wusste sich auch nach dem Krieg zu behaupten.

Dank:

Mein herzlicher Dank gilt Annamarie Jäger-Engi, die mich auf die Publikation mit Auszügen der Erinnerungen von Leo Maillet aufmerksam gemacht hat. Ebenso danke ich Peter P. Knobel, von dem ich die – leider ebenfalls vergriffene – Monographie von Marlene Decker-Janssen erhalten habe.


Der zerbrochene Spiegel, 1944, Federzeichnung

Literatur:
Daniel Maillet und Nikolaus Mayer (Hg.):
Leo Maillet, Bilder Skizzen und Notizen eines Frankfurter Malers. Mainz: Edition Erasmus, 1994. Zitat S.79.
Marlene Decker-Janssen: Nachträgliches. Leo Maillet. Ein Künstler im Exil. Bern: Benteli, 1986. Zitat S. 56.
Silvia Conzett: Wie s esie gsin ischt. Landwirtschaft und Tourismus in Tschiert­schen im 20. Jahrhundert.
Chur: Desertina, 2003, S. 86 und 94f.

*In «Mitteilungen 9, Dezember 2015», Pro Tschiertschen-Praden


Meine Schuhe 1944, Tschiertschen, Federzeichnung