Güdaspitz

Von der Güdaspitz und anderem von Tschiertschen

Von Prof. Dr. Chr. Tarnuzzer (1926)

Wer den herrlichen Ochsenalpweg über Tschiertschen nach Arosa wandert, kann fast nicht genug die unvergleichlich kühn aufragende, begrünte Güdaspitz unter dem nackten Aroser Weißhorn betrachten und bewundern. Ein schmaler, mit der Spitze nach oben gerichteter Kreisel oder, besser gesagt, eine abenteuerliche hohe Spindel, die in die schlankste Nadel ausreift, ragt sie dort als letzter Vorberg empor. So isoliert die Spitze zu stehen scheint, verbindet sie ein teilweise fast ebener, schmaler Grat, über den sie zugänglich, aber nur für den Schwindelfreien zu erreichen ist.

Ähnlich, wenn auch nicht mehr so kühn geformt, ist der westlich ragende Vorberg der Bleisenegg am Mittaghorn. In ihre weit gespannte Wanne kommt das Vieh aus der Churer Ochsenalp herüber. Die steilen Grashänge sind vorzügliche Wildheuplanken, denen von den Mähern eifrig zugesprochen wird. Die beiden Vorberge stellen wirklich einen prächtigen, grünen und stolzen Gürtel dar. Hinter der Güdaspitz zieht sich namentlich eine hohe Felsterrasse, die oben von den grauen Schutthalden des Weißhorns begrenzt wird, zum südwärts gelegenen, malerischen Plateau des Carmennapasses. Dieser steile, aber lohnende Uebergang nach Arosa liegt zwischen dem Aroser Weißhorn (2657 m) und dem Plattenhorn (2560 m).

Der Name Güdaspitz hatte, wie es scheint, einem deutschen Kurgaste, namens Fröhlich*, so wenig gefallen, daß er sie nach seiner eigenen Wichtigkeit „Fröhlichspitze“ taufte. Trotz seiner Siegesfahne, die er auf dem Berge hatte wehen lassen, ging die Gemeinde Tschiertschen nicht auf die Adoption der neuen Bezeichnung ein. Der Name Güdaspitz ist nämlich gut romanischen Ursprungs, so gut wie Tschiertschen, das noch süsse Kirschen hat.

Güdaspitz und Piz Güda in der Piz Terri-Gruppe bedeutet im Deutschen Güzza, Güdza, Güda. Das die Güdaspitz und Bleisenegg aufbauende Gestein ist nun nicht etwa, wie man bis in die letzten Jahre annahm, der tertiäre Bündnerschiefer der nähern Umgebung des Dörfchens, der Taltiefe der Plessur und der beiseitigen Talhänge. Das Bündner Schiefer Gebirge hat sanftere Böschungen und behält gegenüber der Verwitterung im ganzen doch nicht so abenteuerlich kühne Formen, wie z. B. die Güdaspitz. Deren Schiefer sind von anderer Zusammensetzung und auch von verschiedenem Alter.

Ähnliche Widersprüche in den Schiefergebilden trifft man auch anderwärts, z. B. wenn man in die Tschiertschener Alp Farur aufsteigt. Dort erblickt man in der Gegend des „Kaltbrunnen“ am östlichen Gehänge auffallende Türmchen, Ecken und Mauern in Reihen oder in gebrochenen Linien aus dem Boden aufragen, der hier mit ihnen noch vor kurzem als simpler Bündnerschiefer gegolten hatte. Aber auch sie bestehen, wie die Güdaspitz und Bleisenegg, aus Gesteinsgliedern der Kreide, deren vorherrschend kieselige und sandige Ausbildung sie meist viel härter macht als die Bündnerschiefer, so daß sie bei der Verwitterung mit den steilsten Böschungen standhalten.

Die Kreidegesteine des linksseitigen höhern Plessurgebirges (vergl. auch Alpstein und Gürgaletsch) lernte man zuerst am Falknis kennen, und man nennt heute ihre Serie mit der auch in unserem Gebiet nachgewiesenen Falknisbreccie und dem Falknis-Malm (Hochgebirgs-Kalk) die Falknisdecke, die zur größern tektonischen Einheit, der unterostalpinen Gebirgs-Decke gehört. Ihre Gesteine sind weit aus dem

Süden und Südosten auf die penninische Decke, der als Hauptsedimente die Bündnerschiefer angehören, hinübergeschoben worden. Die Falknisgesteine spielen in der Tat auf der höheren Südseite des Plessurgebirges über Praden und Tschiertschen die Hauptrolle, so daß die Deutung dieser Gebirgszone eine ganz andere und überhaupt alles neu geworden ist.

Die Liaskalke, Dolomite und Gneise, die roten Hornsteine und die Grüngesteine, wie Serpentin, Spilit, Diabas und Variolit, die Teile des Platten«, Weiß« und Brüggerhorns und das Hörnli von Arosa zusammensetzen, gehören der nächsthöheren Serie der unterostalpinen Gebirgsdecke, der sog. Aroser Aufbruchzone oder Schuppenzone an, die ein schier chaotisches Gemisch von Schiefern und Grüngesteinen der penninischen und von Jura, Kreide, Trias und Kristall in der unterostalpinen Decke darstellt.

Die schönste Wanderung auf dem Gebiet von Tschiertschen ist die in die Irdener Alpen und über die Urdenschwelle in den Augstberg mit dem Urdensee leitende. Da ist Leben und Herdengeläute, Bachrauschen aus der Tiefe und eine prächtige Aussicht auf die Gebirge beider Tal-Seiten. Die hohe Urdenschwelle, wo sich die Grüngesteine als Hülle des Triasdolomits herlegen, zeigt dem Wanderer, namentlich deutlich am älteren Wege, das seltene Variolitgestein, das in der Schlucht der östlichen Quellader des Urdenbaches wirr zerspalten aufragt. Es ist das Gestein, das auch das an der Grenze von Arosa so abenteuerlich aufragende Hörnli aufbauen hilft. „Blatterstein“ wird es geheißen, da es aus pfefferkorn- bis haselnußgroßen, meist runden, aber auch lentikular gestreckten Kugelgebilden einer äußerst harten, porzellanartigen Masse besteht, die mit ebenso fester Mineralsubstanz verbunden ist. Es ist ein typisch vulkanisches Gestein, das in verhältnismäßig später geologischer Zeit die Schieferhülle durchstochen hat. Aus dieser hohen Gegend sind Variolitgeschiebe vom alten Gletscher in die Moränen der weitern Umgebung von Tschiertsehen geführt worden; sie werden auch noch heute vom Urdenbache in die Tiefen befördert. Für den Gesteinskundigen sind Örtlichkeiten, wie Urdenschwelle und Hörnli, von höchstem wissenschaftlichem Interesse; der Naturfreund, dem solches eher fern liegt, wird sich am Anblick des Urdensees vergnügen, dessen Schale eine Bläue von unsagbarer Schönheit widerstrahlt.

Das basale Schieferland des Schanfigg mit seinen gleichförmigen Bündnerschiefer-Massen ist als Gestein eintönig, aber sein Boden ist der grünste und fruchtbarste unseres Landes. Die Neuheiten und Komplikationen sind erst an den hohen Rändern der Gebirgszirken zu treffen. Beide Zonen bieten eine Augenweide. Die erstere durch ihre fast ganz zusammenhängende, üppige Vegetation, die andere durch die Mannigfaltigkeit der Gesteinsglieder und dem kühneren Aufbau. Hier wechselt die Flora mit den Gesteinsarten, aber wenn sie auch dürftiger ist, als auf der Bündnerschiefer-Grundlage, so begrüsst sie uns doch mit selteneren Arten.

*Julius Froelich (ohne H) stammte aus Brugg (Anm. friiischtailer.ch)